PARALLEL PROCESS

Kapitel Eins :: Keith Burdon


„Da unten läuft das Dreckschwein! Siehst du ihn?“
Harry greift zum Fernglas und späht in die Gassen. Er schwenkt die Gläser von links nach rechts und wieder zurück. Hier oben auf den Dächern ist es kühl, besonders bei Nacht, und Harry will die Sache so schnell wie möglich vom Tisch kehren.
„Sorry Chuck, seh’ nix.“
“Da du Idiot!“ tönt er und zeigt mit dem Finger auf die Straßen. „Jetzt rennt er wieder! Siehst du ihn?“
Aus einem Hinterhof vernimmt er ein Klirren. Glas. Endlich hat auch Harry zwischen den Mülltonnen eine Bewegung vernommen. „Okay, hab ihn, das ist er.“
Im knatternden Blitzlicht der kaputten Straßenlaterne sieht man, wie sich ein langer Mantel hastig auf dem Kopfsteinpflaster bewegt. Chuck lädt die Waffe nach, während Harry den Mann im Auge behält, der sich panisch von Ecke zu Ecke flüchtet, und langsam in der Dunkelheit zu verschwinden droht. Schnell drückt Chuck seinem Kollegen das Gewehr in die Hand. Von jetzt an wird keine Zeit mehr verschwendet. Harry hat das Eisen fest im Griff und starrt konzentriert durch das Visier. Er behält den Mantel da unten im Blick und sucht nach dem Kopf des Opfers. Noch zwei Atemzüge. Der Gesuchte blickt in eine Seitengasse, dreht sich kurz um – und sprintet hinein.

Ein lauter Knall.

„Sauber, der Hinterkopf!“ freut sich Chuck und klopft seinem Kumpanen auf die Schulter. Dieser nimmt das Gerät von sich und wischt sich mit den fingerlosen Lederhandschuhen über die Stirn. „Puuh... los, schaffen wir ihn weg.“


„Wenn diese Wichser mich finden, ist es aus.“ Der Schweiß steht ihm auf der Stirn obwohl es heute Nacht relativ kalt ist. Sein langer Mantel flattert leicht im heraufziehendem Wind. Die offene Straße ist ihm zu unsicher, er sucht ein Versteck in den Seitengassen. Vielleicht die Mülltonnen. Irgendwer hat ihn ganz sicher schon im Visier, und wartet nur darauf, dass er endlich kurz innehält, um ihm eine Kugel durch den Rücken zu jagen. „Verdammte Scheiße!“ er springt hinter einen Container und zieht die Plastiksäcke an sich heran. Eine Flasche rollt vom Deckel der eisernen Tonne und zerschellt auf dem Pflaster. „Fuck!“ stößt es leise aus ihm heraus, und er hechtet wieder zurück auf die Straße, wo er kurzzeitig im flackerndem Licht einer kaputten Straßenlampe zu sehen ist. In seinem Kopf schwirren nur noch Angst, Panik und die Frage „Wohin?“ Eine Antwort gibt ihm die nächste Seitengasse, die scheinbar weder vor eine Mauer, noch vor einen Bauzaun führt, sondern direkt in die verwinkelten Hinterhofsysteme der Ghettos. Das ist es! Ein letzter Blick zurück, niemand zu sehen, los!

Ein lauter Knall.

„Scheiße.“


„Himmel, Arsch und Zwirn, der blutet ja wie ’ne aufgeschlitzte Wildsau. Schau mal, dem fließt die Brühe sogar aus dem Maul. Was auch immer... du nimmst die Beine.“
Die beiden bücken sich und heben den Toten an. Das Blut fließt auf den Steinboden, wo sich bereits eine beachtliche Lache angestaut hat. In der Ferne kann man die Sirenen schon hören.
„Sie kommen.“
Schnell öffnet Harry die Hintertür des Vans und noch schneller fliegt die Leiche in den Lagerraum. Mit einem lauten Knall schlägt die Tür zu, der Wagen fährt los, die Polizei ist noch weit weg.
„Herrlich... so sauber verläuft die Scheiße nicht oft, was Harry?“
„Kann mich nicht beklagen.“, grummelt dieser zurück und wirft dabei ein Auge aus dem Seitenfenster. Inzwischen hat es leicht angefangen zu regnen, die Kreuzung ist auch nachts gut befahren. Chuck bietet seinem Fahrer eine Zigarette an, der dankend ablehnt. „Oha, aufgehört?“ fragt er und steckt sie sich selber an.
„Ach Chuck... ich denke ich werde in Zukunft generell ein wenig zurücktreten.“
Auf dem Nebensitz breitet sich Erstaunen aus.
„Ich meine... meine Kinder... Deborah... weißt du?“
„Versteh schon, hast Angst dass dir einer von diesen Arschgeigen mal das Hirn wegbläst, was?“
„Zum Beispiel... man kann nie wissen.“
„Harry, du weißt sicherlich, dass... FUCK!“

Chuck greift sofort zum Lenkrad als er das Blut sieht, dass plötzlich von Innen an die Frontschutzscheibe spritzt. Er hat nicht genau gesehen, was passiert ist, doch es war kein Schuss. Der Wagen kracht vor eine Fassade, die Motorhaube springt auf. Rauch breitet sich aus. Nun entdeckt er die Klinge, die Centimeterweit aus der Brust seines Freundes ragt. Gerade als er den Kopf nach hinten dreht, fliegt ihm eine Faust ins Gesicht. Ihm wird schwarz vor Augen. Der letzte Blick: Harry, der sich zu ihm dreht und sich am Bauch rumwischt.


„Einfach liegen bleiben.“ Keith wurde zu Boden geworfen. Irgendjemand hat ihn am Hinterkopf getroffen. Er kann nichts hören, der Aufschlag war ohrenbetäubend. Jetzt wegzulaufen, wäre sinnlos. Sie denken, sie haben ihn erwischt. Keiner wusste von der Sicherheitsmaßnahme, die sie ihm verpasst haben, kurz bevor er das Haus verlassen hat. Keiner wusste von der Titanplatte unter seiner Perücke. Noch zehn Sekunde warten, bis der Scharfschütze garantiert nicht mehr auf einem Dach sitzt.
„... 7, 8, 9, 10.“
Keith greift vorsichtig in seine Manteltasche und zieht eine kleine, durchsichtige Tüte, randvoll gefüllt mit roter Flüssigkeit, heraus. Er reißt die Packung mit den Zähnen auf und muss kurz spucken, als ihm etwas Filmblut in den Mund läuft. Dann begießt er sich den Hinterkopf, den Rest schüttet er auf den Steinboden. Die Tüte knüllt er zusammen und stopft sie hastig wieder in die Tasche. Er hört nach wie vor kaum, das Fiepen in seinem Ohr ist zu laut, aber er spürt den Wagen, der gerade in seine Richtung dampft. Er legt sein Gesicht frontal in die Pfütze, die er eben gelegt hat, macht die Augen zu und stellt sich tot.
Sie unterhalten sich, während sie ihn in einen Auto-Lagerraum werfen, doch er versteht keine klaren Worte. Außerdem macht ihm sein Kopf zu schaffen, das Projektil scheint zwar wieder abgefallen zu sein, der Aufprall hat jedoch üble Schmerzen verursacht.
Sie fahren ihn ganz sicher zu ihrem Boss. Oder sie beseitigen ihn komplett. Also, Augen aufmachen und umschauen. Außer einer Kiste, alter Decken, einem scheinbar verschlossenem Hochglanzkoffer, in dem vermutlich die Waffe steckt, mit der man auf ihn geschossen hat, und einem Angler-Set ist hier nichts.
Der Druck auf den Ohren verschwindet, und er kann in etwa verstehen, was sie sagen. Der Mann am Steuer murmelt irgendetwas von Klagen, der Beifahrer zieht eine Zigarette aus der Packung. Keith späht weiter durch den Van und zieht sich leise zur Angelausrüstung hin. Er durchsucht die Tasche, die Stiefel und die Gummihose. Im Latz der Hose findet er plötzlich ein erstaunlich riesiges Messer zum Aufschneiden der Fische. Ein Blick nach vorne – „Ach Chuck... ich denke ich werde in Zukunft generell ein wenig zurücktreten.“ Aha, der Beifahrer heißt Chuck. Still schleicht er sich hinten an den Fahrersitz heran. Sie haben noch nichts bemerkt. Jetzt muss es schnell gehen. Einen Augenblick später rammt er das Fischermesser von hinten durch den Sitz. Das Blut, dass sich relativ schnell an der Frontschutzscheibe verteilt, zeigt, der Stich hat gesessen. Keith hält sich schnell am Sitz fest, jeden Moment würde es knallen. Der Van fährt wenige Meter entfernt mit Wucht vor eine Hauswand. Gleich würde sich der Kollege umdrehen. In dem Moment, indem jener den Kopf zur Seite bewegt, schlägt ihm Keith mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Auch das ging mitten ins Schwarze.

Chuck erwacht in einem dunklen Zimmer. Die Betten, die Blumen im Fensterbrett und der gegenüberliegende Herr am Beatmungsgerät verraten ihm – er liegt in einem Krankenhaus. Raus hier.
Die Handschellen an seinen Armen hindern ihn am Aufstehen. Sie haben ihn erwischt, er hat es versaut und nun steht ihm der Knast bevor. Viel dringlicher als dieses Problem scheint ihn aber eine andere Frage zu quälen. Wie konnte Keith Burdon überleben? Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie er gestürzt ist, als Harry ihm den Kopfschuss gab. Harry?
Im Zimmer lag niemand weiter. Nur er und der Mann gegenüber. Chuck hatte keine Verletzungen, er hat nicht einmal geblutet. Wahrscheinlich liegt sein Freund auf Etage 3. Intensivstation. Oder auch auf –1. Scheiße.
Die Tür öffnet sich einen Spalt, eine Schwester lugt hinein. „Er ist wach.“ Zwei bewaffnete Polizisten kommen in den Raum und schieben sich jeweils einen Stuhl an das Bett des Patienten.
„Chuck Dixon also.“ , begrüßen sie ihn.
Die wichtigste Frage stellt er ihnen sofort: „Wo ist Mr. McGee?“
„Für ihren Fahrer konnten wir nichts mehr tun, Mr. Dixon.“
Verdammt. Kellergeschoss. Der dickliche Polizist zu seiner Rechten hält ihm ein Foto vors Gesicht.
„Kennen sie diesen Mann?“
Sicher kennt er diesen Mann. Das ist Keith Burdon. „Nie gesehen.“
„Wir haben in ihrem Wagen etwas gefunden. Einen Mantel, jede Menge künstliches Blut und ... eine titanverstärkte Perücke.“
Plötzlich wird ihm alles klar. „Was war das gerade?“
„Ein Mantel, künstliches Blut und eine titanverstärkte Perücke.“
Sie haben ihn nicht getroffen. Sie haben ihn nicht verletzt. Er hat sie reingelegt und sich gerächt. Wie konnte so etwas passieren? Was zur Hölle sollte Chuck jetzt tun? Er muss mit Al sprechen. Ohne Anweisungen von oben passiert hier gar nichts.
„Ich werde keinerlei Aussage ohne meinen Anwalt machen. Verschwinden sie.“
Die Beamten schauen sich an, schütteln den Kopf und gehen in Richtung Ausgang.
„Mr. Dixon...“ und er dreht sich um, „Sie haben da ’ne echte Bombe hochgehen lassen.“ Die Tür fällt zu.


Die ersten Passanten stürmen schon aus den Häusern, blicken aus dem Fenster. Durch das zersplitterte Glas der rechten Autotür erkennt Keith eine Frau im Bademantel. Sie versucht hektisch, die Tür aufzubekommen. Raus hier.
Er reißt sich die Haarattrappe vom Kopf und zieht sich den Mantel aus. Die große Tür hinter ihm lässt sich leicht öffnen, doch sein Schädel rumort und der Arm wurde beim Zusammenstoß geprellt. Als er sich aus dem Wagen hievt, wird er von einem Ehepaar in Nachtbekleidung aufgefangen.
„Geht es ihnen gut, Mister? Sie bluten ja überall!“
Dort hinten kommen die Bullen. Das Blaulicht kann er schon sehen.
„Kümmern sie sich um die Fahrer...“ stottert er heraus und spuckt die letzten Reste Filmblut auf den Boden. Nichts wie weg. An der Menschentraube, die sich inzwischen um den Van gesammelt hat, schlängelt er sich vorbei und schaut noch einmal zurück. Den Mann am Steuer hat er erwischt, für den kann man nichts mehr tun. Der Beifahrer kommt gerade wieder zu sich. Seine Nase blutet und er kriegt die Augen kaum auf, dennoch sieht er Keith für einen Moment genau in die Augen. Zwei Schritte und er verschwindet hinter der Ecke.
Ganz in der Nähe ist dieser Tattoo-Shop, in dem sich sein Bruder neulich einen Drachen auf die Wade hat stechen lassen. Dort könnte er sicher telefonieren. Also rennt er durch den Regen, an Kranken- und Streifenwagen vorbei. Niemand hält an, er ist schon weit genug vom Unfallort entfernt. Dann strahlen auch schon die Lichter aus dem dreckigen Schaufenster des „Roque And Roule“. An der Tür stehen die Öffnungszeiten, direkt neben ein paar Tattoo-Musterbeispielen. Raubkatzen, Schwerter, Totenköpfe und jede Menge nackte Frauen. Die Klingel.
Es dauert nicht lange, und drinnen geht ein Licht an. Ein Schatten bewegt sich von innen auf die Eingangstür zu.
„Was zur Hölle wollen sie um diese Uhrzeit?“
„Dürfte ich kurz ihr Telefon benutzen? Es ist dringend!“
Keith war sich bewusst, dass diese Frage eventuell Missverständnis auf der anderen Seite auslösen könnte. „Bitte!“
„Weißt du was? Fick dich ins Knie, du Wichser und geh nach Hause!“
Okay, das war zu erwarten. Die Gegend hier ist nicht gerade fein und wenn jemand nachts im Regen an der Tür um ein Telefonat bittet, ist dies die einzig vernünftige Antwort.
„Hör zu... mein Bruder lässt sich hier jedes Jahr einen kleinen Drachen auf sein Bein stechen, erinnerst du dich?“
„Ich steche jede Menge scheiß Drachen.“
„Marc Burdon! Marc Burdon! Jedes Jahr ein kleiner Drache auf der Wade!“
Stille.
„Ja... kann schon sein.“
Bingo.
„Hörst du die Streifenwagen da draußen? Die wollen unter anderem mich! Also bitte lass mich nur kurz einen Kumpel anrufen und ich verpiss mich wieder.“
„Hast du kein scheiß Handy?“
„Nein, hab ich nicht... nicht hier! Bitte!“
Der Tätowierer denkt kurz nach, schließt aber letztendlich die Tür auf und lässt den durchnässten, dürren Glatzkopf in seine Wohnung. Das viele Blut ist ihm nicht geheuer.
„Hast du jemanden umgebracht? Was soll die ganze Blut-Scheiße?“
„Ist nicht echt...“, schnauft Keith und sucht nach dem Telefon. Der langhaarige Hausbewohner drückt ihm das schnurlose Gerät in die Hand. Gianni’s Nummer hat er immer dabei. Heute hat er sie auf einem kleinem Zettel in der Hintertasche seiner Hose. Er wählt die Nummer und setzt sich auf einen Stuhl. Die Wände sind verziert mit Hunderten von Tattoo-Polaroids. Auf einem eisernem Tisch liegt das Nadelbesteck, daneben der Stuhl. Ein bisschen wie beim Zahnarzt, nur etwas dreckiger.
Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Stimme mit italienischem Akzent: „Jawohl?“ Das muss Marco sein.
„Marco? Hier ist Keith, ich brauche Gianni, sofort!“
Marco ist neu im Geschäft, er ist noch jung. Seit ein paar Wochen darf er dem alten Gianni in den Arsch kriechen. Ihm die Türen aufhalten, Kaffee kochen und Telefonate annehmen. Den wichtigen Kram erledigen die Angestellten, die Bodyguards und Menschen wie Keith Burdon: Gläubiger, Cleaner, Auftragskiller - das volle Programm. Keith ist schon lange dabei, er ist mit zwanzig an den alten Gianni geraten. Seitdem spielt er Postjunge und liefert Koffer von A nach B. Manchmal ist Geld drinnen, manchmal Waffen, manchmal Koks. Bei der letzten Lieferung ist etwas schief gelaufen. Es war weder seine Schuld, noch die seines Bosses. Trotzdem wollten sie seinen Kopf dafür. Den haben sie nicht bekommen.
„Keith?“
„Gianni? Ich sitz hier in so ’nem versifften Tattoladen, draußen fahren die Bullen rum, es gab Komplikationen.“
Der Tätowierer steht daneben, zieht ein misstrauisches Gesicht. Aus dem Hörer vernimmt er leise eine ruhige, tiefe Stimme.
„Okay Gianni, okay. Der Laden heißt ...“, Keith schaut auf das Schaufenster und versucht spiegelverkehrt zu lesen, „Roque and Roule!“
Dem Hausherren wird es langsam zu viel, und er unterbricht das Telefonat leise, hebt den Finger und vermerkt, „dass das hier kein Unterschlupf für angeschossene Untergrundpenner ist.“
„Gianni, warte kurz.“ Keith hält den Hörer vom Ohr und schaut dem Ladenbesitzer ins Gesicht. „Untergrundpenner?“
„Verdammt ich will hier nicht mit reingezogen werden, ich hab keine Ahnung, was ihr da labert und was du für Scheiße gebaut hast, aber ich will da nicht mit rein, okay? Tu mir ’nen Gefallen und verpiss dich einfach, okay?“
„Gianni, schick Tom und Gaule vorbei, ich warte.“
Ein Piepton und Keith legt den Apparat bei Seite. Fragend starren sich die Männer ins Gesicht.
„So Mr. Tattoo, wie heißt du überhaupt?...
„Martin...“
„Martin, wo waren wir stehen geblieben? Ich soll mich verpissen?“
„Nun ja...“ , stottert dieser, „Hör mal, ich hab keinen Bock auf diesen Stress und so, weißt du...“
„Was denn für Stress? Was willst du von mir?“
„Ich meinte nur...“
„Setz dich hin und warte, bis meine Leute kommen und mich abholen! Geh meinetwegen pennen oder sonst was, ich wird hier einfach warten und nichts anfassen, okay?“
Er klingt aggressiv. Spätestens jetzt weiß Martin, es war ein Fehler die Tür zu öffnen. Schlimm genug, dass hier ein krimineller, blutverschmierter Flüchtling sitzt, während draußen die Cops hin- und herrasen. In wenigen Minuten würde hier seine ganze Bande auftreten, und darauf hatte er nur bedingt Lust.
„Hast du schnell irgendwas zu trinken, Martin?“
„Gläser stehen dort drüben, der Wasserhahn ist an der Spüle.“
Wortlos geht Keith durch das kleine Vorzimmer und nimmt sich ein Glas Leitungswasser. Er dreht sich um und bückt sich, um mit seinem Gegenüber, der sich inzwischen in die Couch hat fallen lassen, auf einer Höhe zu sein.
„Martin... ich weiß, dass du Schiss hast, aber das brauchst du nicht.“
Unter der nassen, angeschlagenen Glatze ist plötzlich ein verständnisvolles, beruhigtes Gesicht zu sehen. Erleichterung. Der Kerl ist kein Monster.
„Zwei Typen wollten mir vorhin eine Kugel in die Schädeldecke heizen, weißt du? Aber wir sind denen ’ne Ecke zu schlau. Jedenfalls geht es ihnen jetzt nicht mehr so gut. Einer ist gerade mitten in die Hände der Bullen gelaufen, der andere ist tot. Die wollten meinen Kopf, weißt du? Die wollten mich tot sehen, und die sind nicht allein. Da draußen rennen jede Menge Leute rum, die mich vernichten wollen, töten halt. Jeden Moment dürften also die Jungs von meinem Boss hier sein und mich abholen. Wenn ich aus der Tür rausgehe, und den Raum verlasse, dann bist du aus der Sache raus, und du hast mich nie gesehen, okay?“
Keith krempelt sein langärmliges, weißes Oberteil hoch und zieht eine kleine Folie ab, mit Klebeband an die Innenseite des Stoffes befestigt. Er rollt sie auf und zieht zwei Scheine heraus.
„Das sollte die Unkosten decken, die ich verursacht hab. Wasser, Strom und Telefon also. Eventuell musst du den Boden wischen – meine Schuhe sind nicht ganz sauber.“

„Keith?“

Martin hat die beiden großen Männer in seinem Eingang nicht bemerkt.
„Komm mit.“
Die langen Mäntel reichen fast bis zum Boden, gekleidet sind sie ganz in schwarz.
Der Flüchtling steht auf, dreht sich um, zwinkert dem Tätowierer zu und steigt mit den anderen in ein Auto. Die Türen schlagen zu, das Geräusch des Motors ist zu hören. Weg sind sie. Verwirrt schaut Martin auf seinen kleinen Glastisch und den 100 Dollar Noten, die der Unbekannte zurückgelassen hat.